Samstag, 19.10.2019

Über Vigo, Spanien und kleine Kulturschöckchen

Nach mittlerweile zwei Monaten komme ich jetzt endlich dazu, ein bisschen über Vigo zu schreiben - die Stadt, von der ich vor ziemlich genau einem Jahr zum ersten Mal gehört habe, die mich auf Anhieb angesprochen hat und dann zum Ziel meiner Reise geworden ist. Wie aus meinen anderen Einträgen bestimmt hervorgeht, habe ich die Stadt schon jetzt ins Herz geschlossen, meine ersten Lieblingsorte gefunden, einen einigermaßen guten Überblick bekommen, aber auch gemerkt, wie viel hier ganz anders ist, als zuhause.

Erster Eindruck

Mein erster Gedanke nach meiner Ankunft war, dass alles hier so riesig scheint. Im Taxi zu meiner Wohnung hatte ich so ein richtiges Großstadt-Gefühl: hohe Häuser, breite Straßen, viel Verkehr, Trubel und Lärm. Doch beim genaueren Hinsehen habe ich schnell gemerkt, dass zumindest der für mich relevante Teil von Vigo sehr überschaubar ist. Das meiste spielt sich im Grunde um den Casco Viejo, also die Altstadt, und den Hafen herum ab. Dafür ist meine Wohnlage wirklich top.

Nach und nach sind mir hier viele kleine Dinge aufgefallen, die wider Erwarten deutlich von unserem Lebensstil zuhause abweichen. Von einem richtigen Kulturschock zu sprechen kommt mir ein wenig zu extrem vor, aber ich finde kein besseres Wort, das die vielen kleinen Überraschungen und Umstellungen hier beschreiben würde - vielleicht war es ja sowas wie ein Kulturschöckchen! :D Daher hier nun eine kleine Aufzählung meiner Beobachtungen und Eindrücke: 

Kaffee!!
In Vigo bzw. in Spanien generell gibt es den absolut besten Café con Leche, den ich in meinem Leben getrunken habe! Sogar in der Uni ein Traum und Lebensretter in der Pause. Fast überall gibt es diese Siebdruckmaschinen, aus denen der Kaffee besonders gut schmeckt und oft wird die warme aufgeschäumte live am Tisch eingegossen. Und das für so wenig Geld! In meinem Lieblingscafé bekommt man für 1,55€ einen großen Milchkaffee mit Sojamilch, in der Uni bleibt man da auch gut mal unter 1€. Sogar meine Specials wie laktosefreie oder Sojamilch kosten hier wenn überhaupt einen winzigen Aufschlag - absolut kein Vergleich zu Deutschland!

Ausgehen
In Vigo durch die Bars zu ziehen ist in der Regel ein echter Schnapper! Ein Bier oder ein Glas Wein sind hier deutlich günstiger als in Deutschland. Oft besteht dabei nur die Gefahr, dass man sich darauf ausruht, von Bar zu Bar zieht und am Ende merkt, dass dann doch ein gutes, wenn auch verhältnismäßig kleines Sümmchen zusammengekommen ist! Aber das ist es meistens wert, denn Vigo hat unheimlich viele schöne Bars und Ausgehlocations zu bieten. Man hört nicht auf, neue davon zu finden, aber geht genauso gerne immer wieder in seine Lieblingsbars! Fast überall bekommt man zu den Getränken auch noch ein paar Snacks oder sogar richtige Tapas gratis dazu serviert und schenkt sich damit gelegentlich auch mal das Abendessen!

Bettler und Händler
Leider gibt es hier eine Menge Bettler! Dabei habe ich gehört, dass Vigo eine relativ wohlhabende bzw finanziell gut aufgestellte Stadt sein soll. Aber wie oft man im Vorbeigehen Menschen mit Schildern am Straßenrand sitzen sieht oder sogar am Tisch im Restaurant angesprochen und nach ein wenig Kleingeld gefragt wird, ist schon krass. Einige haben ihre Stammplätze oder Wiedererkennungsmerkmale, einer z.B. macht immer eine kleine Seifenblasenshow auf dem Hauptplatz der Altstadt. Man kennt das in ähnlicher Form zwar auch aus Deutschland, aber das in diesem Ausmaß zu sehen macht mich trotzdem immer ein wenig nachdenklich. Und an die Straßenhändler, die hier vorwiegend Regenschirme zu verkaufen versuchen, musste man sich auch erstmal gewöhnen, aber die gehören mittlerweile schon fast ein bisschen dazu!

Hügel!!
Vigo ist eine seehr steile und hügelige Stadt! Am Anfang, als wir noch sommerliche Temperaturen hatten, ist man bei jedem zweiten Gang ins Schwitzen gekommen und auch jetzt fühlt es sich manchmal noch mehr nach Wandern als nach Schlendern an! Ist aber eigentlich ein ganz gutes Training für zwischendurch! :D An den besonders steilen Stellen gibt es sogar Outdoor-Rolltreppen, mit denen man sich gelegentlich mal einen Teil der Bergwanderung erleichtern kann.


(Nacht-) Leben
Nicht nur bei gutem Wetter hat man das Gefühl, das Leben findet hier viel mehr draußen auf der Straße statt. Die Leute sitzen in Cafés und Bars, trinken Kaffee und lesen Zeitung, gucken Fußball und schnacken ausgiebig, egal zu welcher Tageszeit! Überall sieht man solche "sozialen Treffpunkte" und zu Zeiten, zu denen in Deutschland (bzw. Paderborn :D) oft schon die Bürgersteige hochklappen und die Lichter ausgehen, geht man in Vigo erst los. Es ist hier überhaupt nicht ungewöhnlich, sich abends um acht noch zum Kaffee zu verabreden und selbst Familien mit kleinen Kindern sind um die Zeit noch massenhaft unterwegs. Das Abendessen findet in Spanien in der Regel nicht vor neun oder zehn Uhr statt. Will man abends in einer Bar was trinken gehen, kann man sich drauf einstellen, nicht vor halb elf dort aufzutauchen und falls man danach auch noch in einen Club weiterzieht, muss man sich definitiv von den deutschen Partyzeiten verabschieden und feiert ab halb drei nachts - kurz aber dafür meistens ordentlich - und dann auch gerne mal bis halb sechs/ sechs Uhr in der Frühe! Es wirkt immer so, als würde das Leben hier generell etwas später stattfinden und es ist einfach immer viel los draußen, sodass man sich nie unwohl fühlt, wenn man nachts noch durch Vigo läuft! 

Hunde!
Vigo ist voller Hunde! Besonders viele kleine Schosshunde. Retriever und ähnliche Rassen sieht man hier sehr selten! Ich persönlich finde das super, auch wenn man dann natürlich jedes Mal daran erinnert wird, dass ein gewisser kleiner Ekki mir ziemlich doll fehlt! Aber eine Sache ist merkwürdig an den spanischen Hunden: Sie erledigen ihre Toilettengänge oft mitten auf der Straße und auf den Gehwegen, sodass man gelegentlich ein paar Pfützen ausweichen muss. Es gibt hier wohl einfach zu wenige Pinkelbäume und -büsche. Oder es ist das "Andere Länder, andere (Hunde-) Sitten-Phänomen". Glücklicherweise sorgt die tägliche Straßenreinigung dafür, dass sich diese “Erledigungen” nicht allzu lange ansammeln!

Mülltrennung und Plastikkonsum
Dafür herrscht hier noch ein völlig anderes Bewusstsein. Der Haushaltsmüll wird oft gar nicht oder nur notdürftig getrennt und alles landet dann in den großen Mülltonnen (grün und gelb), die den verschiedenen Häusern zugeteilt an den Straßen stehen. Auch Plastiktüten werden hier ohne Zögern kostenlos in den Läden ausgeteilt und mitgeschleppt. Zwar nutzen viele sie dann wenigstens als Mülltüten, aber wie zurückgeblieben das Umweltbewusstsein hier teilweise noch ist, ist schon ein bisschen erschreckend. Dinge, für die man in Deutschland heutzutage als unaufgeklärter Umweltschänder beäugt werden würde, sind hier anscheinend noch nicht ganz so verrufen. Man merkt aber immerhin, dass sich einige fortschrittlichere Ideen auch hier langsam einschleichen, z.B. kann man in meinem Supermarkt immerhin wiederverwendbare Obstnetze und Holzzahnbürsten kaufen.

Chlorwasser
Das Leitungswasser hier schmeckt absolut nach Schwimmbad! Ich habe versucht, mich daran zu gewöhnen, es trotzdem zu trinken, weil es wohl uber einen so kurzen Zeitraum nicht gesundheitsschädlich sein soll und man auch so eine Menge Plastik sparen kann, aber das Trinkwasser hier schmeckt einfach nicht und erfüllt nicht wirklich seine Funktion, da man sich meistens noch durstiger fühlt als zuvor.

Begegnungen

Schon oft habe ich es hier erlebt, dass man in Alltagssituationen von spanischen Senioren angesprochen wird, die uns Erasmus-Studenten  Deutsch oder Englisch sprechen hören und aufmerksam werden, weil sie selbst mal in Deutschland gelebt haben, vermutlich als Gastarbeiter in den 60ern. Meistens sind sie super interessiert an uns und unserer Herkunft, berichten von ihrer Zeit in “Alemania” und packen sogar noch ein paar Deutschkenntnisse aus. Ob die Nachbarin im Treppenhaus, der ältere Herr im Bus oder die äußerst redefreudige Oma im Schuhladen, man kommt hier durch die verschiedenen Sprachen echt häufig ins Gespräch und das ist wirklich eine coole Erfahrung!

Busparty

Nur noch ein kleiner Funfact: Oft läuft hier im Bus das Radio mit bester Stimmungsmacher-Musik. Schon sehr oft habe ich auf dem kleinen Display Musikvideos der Dire Straits ("Money for nothing") gesehen und neulich liefen morgens auf dem Weg zur Uni herrliche Oldies wie Waterloo, YMCA und ein paar Queen Songs. Die Busfahrer scheinen einen guten Musikgeschmack zu haben!

Vigos zwei "Gesichter"
Was ich an Vigo total interessant und besonders finde sind die zwei Seiten der Stadt. Auf der einen Seite gibt es super viele schöne Gebäude, Fassaden, Balkone, Plätze, Parks und Aussichtspunkte. Die Altstadt zum Beispiel ist meiner Meinung nach einfach wunderschön und der Baustil der alten Häuser gefällt mir unheimlich gut. Auf der anderen Seite ist Vigo voll von Ruinen, verfallenen, ungepflegten Ecken und Baustellen. Oft läuft man an bloßen Hausfassaden vorbei, die halbherzig mit einem kleinen Kettenschloss verriegelt sind und durch deren nicht mehr vorhandene Fenster man einen wuchernden Innenhof und gelegentlich ein paar Gerüstereste und gelben Bauschaum sieht. An genau diesen Ecken sieht man dass es sich hier absolut nicht um eine Touristenstadt handelt. Hier ist nicht jede Ecke fotogen und zurechtgestriegelt. Aber genau das mag ich so gerne - dass Vigo nicht so perfekt ist, dass vom allerschönsten Aussichtspunkt ein alleinstehendes hässliches Hochhaus in den Meerblick ragt, dass die traumhaft schönen Ecken hier direkt auf das genaue Gegenteil treffen und sich in direktem Übergang aneinanderreihen. Und dass alles trotzdem so zusammenpassend und harmonisch wirkt. Das macht für mich u.a. den Charme der Stadt aus. Industriestadt hin oder her, Vigo bietet eine Menge wirklich schöner Orte und vor allem eins: den Hafen und das Meer. Das ist einfach unbezahlbar!